Die Champions League der europäischen Literatur

EU-ropa ist nicht nur der Binnenmarkt oder eine Rechtsgemeinschaft oder der phänomenal kommerzialisierte Fußball, sondern in der Wahrnehmung vieler Menschen ein kreativer Raum geistiger Frische. Vor allem die mannigfaltige Vielfalt europäischer Literatur ragt heraus. Für viele erfährt das Buch in diesen schwierigen Pandemiezeiten gleichsam eine Renaissance. In der Champions League der schönen Literatur finden wir eine unglaubliche Fülle an horizonterweiternden Romanen. Ich habe hier eine kleine Auswahl getroffen, die selbstverständlich subjektiv ist (wie jede Fiktion) und die keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Gleichwohl finden wir im Viertelfinale der Champions League acht Schriftsteller*innen aus acht europäischen Ländern.

Nino Haratischwili – Das achte Leben (für Brilka)

Die seit vielen Jahren in Deutschland lebende und auf Deutsch schreibende georgische Theaterregisseurin und Romanautorin Nino Haratischwili ist mit ihrem Roman Das achte Leben (für Brilka) ein wunderbarer und großartiger Wurf gelungen. Das gesamte 20. Jahrhundert, Sowjetunion, Georgien und Europa spiegeln sich darin wider – eine leidvolle Schicksalsgeschichte, dennoch voller Lebensfreude, ein feministisches Opus Magnum!

Orhan Pamuk – Rot ist mein Name, Schnee, Das Museum der Unschuld, Die rothaarige Frau

Der Großmeister der türkischen Gegenwartsliteratur zieht in jedem seiner Romane akke Register des Spannungsfelds zwischen Orient und Okzident. Wer die moderne Türkei verstehen will, braucht Orhan Pamuks literarische Reisen. Die reiche und komplexe Geschichte seines Heimatlandes ist auch seine eigene Geschichte. Pamuk hat ein ausgesprochenes Faible für die Farbe Rot (siehe türkische Flagge).

Hilary Mantel – Wölfe, Falken, Spiegel und Licht, Brüder

Sie ist die ungekrönte britische Königin des anspruchsvollen Historienromans! Die Tudor-Trilogie Wölfe, Falken, Spiegel und Licht über Thomas Cromwell und Henry VIII. ist unerreichte Romankunst. Auch ihr Roman Brüder über die Jahre des Terrors nach der Französischen Revolution zeugen von einer selten gekannten Tiefe und Detailtreue ihrer Psychogramme.

Javier Marías – Mein Herz so weiß, Dein Gesicht morgen I-III, So fängt das Schlimme an, Berta Isla

Seit vielen Jahren schart der Spanier Javier Marías eine riesige Fangemeinde um sich. Sein Kunstgriff ist die ungeheure Verdichtung der Zeit in einer Geschichte, die keine richtige ist. Vor allem die monumentale Trilogie Dein Gesicht morgen I-III zeigt, welche Tiefe der menschlichen Existenz in Romanen möglich ist. Welche Beziehungen existieren überhaupt zwischen Menschen und kann man mit Gewissheit erkennen, wie sich ein Mensch in Zukunft verhalten wird?

Péter Nádas – Parallelgeschichten, Aufleuchtende Details

18 Jahre hat der Ungar Péter Nádas für seine Parallelgeschichten gebraucht, um einen der fantastischsten und schwierigsten Romane der letzten 20 Jahre zu vollenden. Geschichten ohne Anfang und Ende und doch schneiden sich die Parallelen in der Unendlichkeit wie in der höheren Mathematik. Er entblößt Körper und Seele gänzlich, nichts bleibt verborgen oder wird geschont.

Mircea Cărtărescu – Die Wissenden, Der Körper, Die Flügel, Solenoid

Street Art in Budapest, Sommer 2020; Foto: Sophie Omog

Der Rumäne Mircea Cărtărescu ist zweifellos ein kommender Nobelpreisträger für Literatur. Der moderne Marcel Proust setzt sich an die Spitze der Bewusstseinsstrom-Literatur. Seine Orbitor-Trilogie Die Wissenden, Der Körper, Die Flügel sowie das letzte Werk Solenoid sind beispiellos in der Weltliteratur. Ihm reichen starker Kaffee, Papier und ein Kugelschreiber für seine existenzialistischen Impressionen über das Ich in der (sozialistischen) Welt.

Olga Tokarczuk – Unrast, Die Jakobs-Bücher

Die Befindlichkeit des modernen Menschen ist die Unrast. Immer erreichbar und immer mobil, aber nie bei sich selbst. Die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk schafft in ihren Werken den Spagat zwischen Postmoderne und Spracheleganz, besonders in ihrem famosen Historienroman Die Jakobs-Bücher.

Jonathan Littell – Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten ist einer der radikalsten Romane des noch jungen 21. Jahrhunderts über die Schreckensherrschaft der SS. Wenn man die ersten 40 regelrecht abstoßenden Seiten dennoch überlebt, dann bewältigt man dieses außergewöhnliche Meisterwerk der europäischen Literatur und wird reich belohnt. Der Franzose Jonathan Littell sucht immer wieder Grenzerfahrungen, auch als Reporter in Syrien.