Russland – ein Terrorstaat?

Zbigniew Wilkiewicz

Bekanntlich bemüht sich der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj seit Kriegsbeginn darum, die Weltöffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Russland international als Terrorstaat eingestuft werden sollte. Zuletzt geschah dies am 29.07.2022, als Selenskyj zum wiederholten Male hervorhob, dass Russland sich „als staatlicher Sponsor des Terrorismus“ betätige.  

Inzwischen haben auch etliche US-Senatoren eine entsprechende Resolution auf den Weg gebracht. Ob es aber zu einer solchen Einstufung Russlands kommt, wird im US-Außenministerium entschieden, bei dem auch die Liste jener Staaten, die den Terrorismus unterstützen, geführt wird. Diese umfasst Länder wie Syrien, Iran, Kuba und Nordkorea, die von den USA mit strikten Sanktionen belegt worden sind.  

Am 2. August 2022 hat nun der Auswärtige Ausschuss des Parlaments Lettlands die von Russland gegen die Ukraine angewendete Gewalt als Staatsterrorismus eingestuft. Russland unterstütze den Terror und übe ihn selbst aus, heißt es in der Erklärung. Das bewusste Töten von Zivilisten sei ein klarer Terrorakt. Der Auswärtige Ausschuss des lettischen Parlaments fordert die Abgeordneten des Europäischen Parlaments deshalb auf, zu beschließen, die Erteilung von Touristen- und Einreisevisa für russische und belarussische Staatsangehörige unverzüglich auszusetzen.  

In der Begründung dieses Antrags wird festgehalten, dass Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 in einer durch nichts zu rechtfertigenden Art und Weise überfallen habe. Seitdem seien 12 Millionen Ukrainer/-innen gezwungen worden, ihren Wohnort zu verlassen, mehr als 5 Millionen ihr eigenes Land. Ebenso beruft man sich auf die Berichte internationaler Beobachtermissionen, in denen wiederholte und massive Gräueltaten russischer Streitkräfte gegen die ukrainische Zivilbevölkerung beschrieben wurden. Dabei handele es sich um Folter, Vergewaltigungen, willkürliche Tötungen und Masseninhaftierungen von Zivilisten. Russland versuche, das ukrainische Volk und dessen Streitkräfte durch Leid und Einschüchterung zu demoralisieren.  

Fast alle Länder haben die Invasion vom 24. Februar 2022 als Akt der Aggression verurteilt. Allerdings – und das scheint manchmal in Vergessenheit zu geraten – hat diese Aggression bereits vor acht Jahren mit der Annexion der Krim durch russische Streitkräfte am 27. Februar 2014 ihren Anfang genommen. Die Fortsetzung erfolgte in den Bezirken Luhansk und Donezk als Aggression irregulärer Einheiten mit Unterstützung Russlands. Seit Beginn dieses Konflikts kam es zu zahlreichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.  

Seit dem 24. Februar 2022 haben diese Delikte allerdings einen neuen Charakter angenommen: vorsätzliche Folterung, Verschleppung und Tötung von Zivilisten, wahllose Angriffe gegen Zivilisten und zivile Einrichtungen wie Wohngebäude, Krankenhäuser, Schulen, Kulturstätten sowie Hunger als Kriegsmittel gegen die Zivilbevölkerung. Zivilisten werden terrorisiert, vergewaltigt, zwangsdeportiert und in Filtrierlager in der Nähe der ukrainischen Grenze gesperrt. Tausende Kinder wurden inzwischen nach Russland deportiert. Die OSZE hat demgemäß schon sehr bald festgestellt, dass Russland als Aggressor für das menschliche Leid in der Ukraine verantwortlich sei.  

Führt man sich vor Augen, dass Russland nicht müde wird, die Existenzberechtigung der Ukraine als unabhängiger Staat und der Ukrainer als Volk in Frage zu stellen, sowie zudem bestrebt ist, die Ukraine physisch, wirtschaftlich und kulturell zu vernichten, so sind allein hier schon etliche Elemente enthalten, die der weltweit anerkannte Begriff des Genozids beinhaltet. An sich wäre der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dafür zuständig, eine Resolution zu verkünden, auf deren Basis ein strafrechtliches Vorgehen gegen die Führung des Aggressors Russland werden müsste. Das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sorgt aber regelmäßig dafür, dass entsprechende Resolutionen blockiert werden. Wir stehen also vor einem kaum auflösbaren paradoxen Dilemma, da die Großmächte durch den im Völkerstrafrecht verankerten Tatbestandteil der Aggression wegen ihres Vetorechts nicht belangt werden können.  

Bekanntlich hat das Europäische Parlament den rechtswidrigen, nicht provozierten und ungerechtfertigten militärischen Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine am 1. März 2022 auf das Schärfste verurteilt. Am 2. März 2022 verabschiedeten 141 von 193 Staaten der UNO-Vollversammlung eine entsprechende Notstandsresolution. Und am 28. April 2022 rief die parlamentarische Versammlung des Europarats dazu auf, dringend einen internalen Ad-hoc-Strafgerichtshof einzusetzen. Aktuell wird die Errichtung eines solchen Sondertribunals zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine diskutiert.  

Unabhängig davon, ob und wie sich eine solche Institution zukünftig konstituieren wird, führt Russland in der Ukraine einen Vernichtungskrieg und begeht nachweislich nicht nur zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern wird auch mit einiger Berechtigung des Völkermords beschuldigt. Die von Russland bestrittene, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit befohlene Tötung von kriegsgefangenen Asow-Kämpfern in einem Gebäude des Gefangenenlagers in Oleniwka stellt nach Einschätzung des amerikanischen „Institute for the Study of War“ eines der bisher schlimmsten Kriegsverbrechen des 21. Jahrhunderts dar. Die Tatsache, dass das Oberste Gericht in Russland das Asow-Bataillon und alle mit ihm verbunden Organisationen zur „Terrororganisation“ erklärt hat und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz den Zugang zum Straflager verwehrt, weist deutlich in Richtung russischer Täterschaft. (gna.: Opfer in Oleniwka offenbar Verteidiger des Asowstal-Werks. In: FAZ, 04.08.2022, S. 5)  

Neben diesem jüngsten und besonders perfiden russischen Kriegsverbrechen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine inzwischen in mehr als 16.000 Fällen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Der Internationale Strafgerichtshof hat ein Team von 42 Ermittlern entsandt, der Menschenrechtsrat der UN hat eine Untersuchungskommission eingerichtet, die Beweise für Kriegsverbrechen sammelt, und in der Ukraine selbst gibt es etwa 50 NGOs, die eine ähnliche Arbeit verrichten, darunter Human Rights Watch und Amnesty International. Letztere ist kürzlich in die Schlagzeilen geraten, weil sie in ihrem am 4. August 2022 veröffentlichten Bericht der Ukraine eine die Zivilbevölkerung gefährdende Kriegsführung zum Vorwurf machte, ohne eine Stellungnahme der Ukraine abzuwarten. Auch wurde bemängelt, dass in dem AI-Bericht die ukrainischen Abwehrmaßnahmen mit den russischen Angriffen gleichgesetzt worden seien. Dies ermöglichte der Moskauer Propaganda eine Täter-Opfer-Umkehr und sorgte in Kiew für berechtigte Empörung. (Dominic Johnson: Ein gefundenes Fressen. In: taz, 05.08.2022, S. 12) 

Außer der Erpressung der Weltgemeinschaft durch die Verweigerung und Drosselung vertraglich vereinbarter Gaslieferungen und die Blockade der ukrainischen Getreideexporte wird Russland im Zusammenhang mit dem Beschuss des russisch besetzten Atomkraftwerks im ukrainischen Saporischschja zuletzt mit dem Vorwurf des Nuklear-Terrors konfrontiert. Ungeachtet dessen, ob sich dieser Vorwurf erhärten lässt, hat der Kreml durch seine wiederholten Drohungen, im Konflikt mit der Ukraine und dem Westen Atomwaffen einzusetzen, schon seit Kriegsbeginn deutlich gemacht, dass er bereit ist, sich nuklearer Erpressungen zu bedienen, um seine imperialen Ziele durchzusetzen. Es gibt also gute Gründe, die Russische Föderation als das zu benennen, was sie inzwischen ist, ein Terrorstaat, der sich durch seine Kriegsführung in der Ukraine des Genozids schuldig macht und dafür rechtlich belangt werden müsste.