Dr. Gerhard Schüsselbauer
„Was man in der Schönheit einfangen sollte, ist das, was tückisch und unwiderstehlich ist.“ (László Krasznahorkai, Krieg und Krieg)
EU-ropa ist nicht nur der Binnenmarkt oder eine Rechtsgemeinschaft oder der phänomenal kommerzialisierte Fußball, sondern in der Wahrnehmung vieler Menschen ein kreativer Raum geistiger Frische. Vor allem die mannigfaltige Vielfalt europäischer Literatur ragt heraus. Europa ist der Kulturraum mit den mit Abstand meisten Nobelpreisen für Literatur. Für viele erfährt das Buch in diesen schwierigen Krisenzeiten gleichsam eine Renaissance. In der Champions League der schönen Literatur finden wir eine unglaubliche Fülle an horizonterweiternden Romanen.
Ausgerechnet László Krasznahorkai, ein wenig das enfant terrible der europäischen Literatur, erhält nun 2025 die höchste Auszeichnung für literarisches Schaffen. Vor allem Satanstango, Melancholie des Widerstands, aber auch Krieg und Krieg sowie der Erzählband Seiobo auf Erden ragen aus seinem Werk heraus. Geradezu kongenial ist bzw. war die Zusammenarbeit mit dem ebenfalls ungarischen Regisseur Béla Tarr, für den er die Drehbücher geschrieben hat. Das monumentale Filmwerk Sátántangó (Satanstango) gilt unter Cineasten als Meilenstein der Filmgeschichte. Der Film dauert 450 Minuten, so lange wie man braucht, um bei normaler Lesegeschwindigkeit den Roman zu lesen. Vielleicht sollte man beides parallel versuchen… Absurdität, Trostlosigkeit, Endlichkeit der Existenz, aber auch die immerwährende Suche nach Erlösung prägen sein Werk ebenso wie die apokalyptische, postkommunistische Welt. Vor allem seine erlesene Sprache sticht hervor, gleichsam eine Herausforderung für jede/n Übersetzer/in aus dem Ungarischen, einer Sprache, die wegen ihrer lexikalischen Semantik und Grammatik durchaus Besonderheiten, besonders bei der Verbbildung aufweist.
Wegen der geschlechterreflektierten Vergabe des Nobelpreises, bei der darüber hinaus auch die unterschiedlichen Weltregionen berücksichtigt werden müssen, wird es wohl noch etwas dauern, bis wieder ein/e Europäer/in den Literaturpreisnobelpreis in Empfang nehmen kann. Das sind eher schlechte Nachrichten für einen anderen führenden, mittlerweile 83-jährigen Schriftsteller aus Ungarn. Péter Nádas hat mit seinen Romanen Parallelgeschichten, Buch der Erinnerung und Aufleuchtende Details zweifellos Maßstäbe gesetzt. 18 Jahre hat der Ungar Péter Nádas für seine Parallelgeschichten gebraucht, um einen der fantastischsten und schwierigsten Romane der letzten 25 Jahre zu vollenden. Geschichten ohne Anfang und Ende und doch schneiden sich die Parallelen in der Unendlichkeit wie in der höheren Mathematik. Er entblößt Körper und Seele gänzlich, nichts bleibt verborgen oder wird geschont.
Viel besser sieht es schon für den 1956 geborenen Mircea Cărtărescu aus, dennzweifellos ist er ein kommender Nobelpreisträger für Literatur. Die Wissenden, Der Körper, Die Flügel, Solenoid – mit diesen Werken setzt sichder moderne Marcel Proust an die Spitze der Bewusstseinsstrom-Literatur. Seine Orbitor-Trilogie Die Wissenden, Der Körper, Die Flügel sowie das letzte Werk Solenoid sind beispiellos in der Weltliteratur. Ihm reichen starker Kaffee, Papier und ein Kugelschreiber für seine existenzialistischen Impressionen über das Ich in der (sozialistischen) Welt.
Aber zunächst darf Ungarn László Krasznahorkai feiern, denn ohne Zweifel ist er wegen seiner sprachlichen Eleganz und thematischen Vielfalt ein ganz würdiger Träger des diesjährigen Preises.
Kleine Anekdote am Rande: Einen Tag nach Bekanntgabe der Entscheidung des Nobelpreiskomitees fuhr ich in der Budapester Metro und entdeckte einen älteren Mann, der Krasznahorkai täuschend ähnlich sah. Wir mussten lachen, weil ich die äußerliche Ähnlichkeit erwähnte und konnten uns beide wunderbar über den Preis für Krasznahorkai freuen.

Street Art in Budapest, Foto: Sophie Omog