Deutsche Ignoranz und Gefühlsverwirrung?

Zbigniew Wilkiewicz

„Die Ukraine hat für die meisten Deutschen, auch die gebildeten Stände, nicht existiert“ stellt der prominente Osteuropahistoriker Karl Schlögel anlässlich eines Treffens der deutsch-ukrainischen „Brücke aus Papier“ in Weimar fest und ergänzt, dass es besonders die geistige „Hochebene“ Deutschlands war, die in ihrer Arroganz und Unkenntnis auf das imperiale Russland fixiert blieb, während man die Ukraine lediglich als riesiges Durchgangsland auf dem Weg nach Moskau behandelt habe. (Kathrin Hillgruber: Widerstandskraft aus dem Bibliothekskubus. Was Aschebücher lehren: Das deutsch-ukrainische Schriftstellerprojekt „Eine Brücke aus Papier“ tagt in Weimar. In: FAZ, 8.11.22, S.9). Es fällt schwer, Karl Schlögel nicht beizupflichten. In der Tat ist es bedauerlicherweise der seit Ende Februar dieses Jahres von Russland großflächig entfesselte Krieg, der am Nichtwissen und der Arroganz der meisten Deutschen etwas verändert hat, denn die sich heldenhaft verteidigende und um ihre schiere Existenz ringende Ukraine bleibt trotz einsetzender deutscher Kriegsmüdigkeit weiterhin im Fokus der Öffentlichkeit.

Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass dieser Krieg bereits seit acht Jahren währt und von der deutschen Öffentlichkeit erst nach seiner Ausweitung durch die verbrecherische Invasion Putins zwangsläufig wahrgenommen werden musste. Denn inzwischen leben wir in einer noch vor einem Jahr kaum für möglich gehaltenen Zeiten- bzw. Epochenwende und haben in Ansätzen gelernt, welche Folgen eine auf Arroganz und Ignoranz aufbauende Politik haben kann, die vorwiegend das eigene Wirtschaftsinteresse im Auge hatte und die berechtigten Sorgen von Ukrainern, Polen und Balten, die immer wieder vergeblich vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt hatten, souverän beiseiteschob. Diese durch die russische Erpressungspraxis gut belegten Einwände stießen bei den maßgeblichen deutschen Politikern/innen und Experten/innen auf taube Ohren. Und leider nicht nur bei ihnen, sondern – und das schmerzt Karl Schlögel besonders – auch bei zahlreichen deutschen Intellektuellen, die trotz des innen- wie außenpolitisch (selbst)mörderischen Kurses von Wladimir Putin an ihren russlandfreundlichen Vorstellungen festhielten.

Die politisch notwenige Aufarbeitung dieser fatalen Fehleinschätzungen steht noch aus, allerdings setzt die Diskussion allmählich ein, und es wird deutlich, dass so manches außenpolitische Grundsatzprogramm deutscher Parteien wird umgeschrieben werden müssen. Das wird aber bei weitem nicht genügen, denn Papier ist bekanntlich geduldig. Aus dem Schaden zu lernen muss heißen, nicht nur Fehler zu revidieren und eine Neuorientierung der Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik energisch voranzutreiben, sondern diese Notwendigkeit der eigenen Bevölkerung auch glaubwürdig zu vermitteln.

Und hier sind die Universitäten, die Schulen, aber auch die außerschulische politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland in einer besonderen Verantwortung. Dies heißt auf die Ukraine bezogen, dass es neben den schon bestehenden wissenschaftlichen Institutionen und Initiativen, die der Ukraine gewidmet sind, eine spürbare Erweiterung des ukrainespezifischen Lehr- und Lernangebots geben sollte. Das heißt, dass man sich in Deutschland weitaus intensiver mit der russischen und ukrainischen Geschichte sowie den eigenen und gegenseitigen Russland- und Ukrainebildern auseinandersetzen sollte. Man wird in der Bundesrepublik auch aufgrund der Schwerpunktverlagerung der EU nach Osten, die sich durch den präsumtiven EU-Beitritt der Ukraine ergibt, nicht daran vorbeikommen, sich weitaus intensiver und partnerschaftlicher mit den Belangen Mittelosteuropas auseinanderzusetzen. Dazu gehört auch eine intensivere Diskussion deutscher (historischer) Narrative im Hinblick auf Russland und Ostmitteleuropa.

Ein – wie ich meine – lesenswertes Lehrstück hierfür bildet der jüngst in der FAZ abgedruckte Disput zwischen dem für seine biographisch geprägten Aufarbeitungsromane bekannt gewordenen deutschen Erfolgsautor Eugen Ruge, in denen die Perversion des unter Stalin herrschenden Terrors und der Bankrott der DDR quasi familiengeschichtlich analysiert wird, und dem Historiker und Publizisten Gerd Koenen, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit der neuesten Geschichte Russlands, der UdSSR und Mitteleuropas beschäftigt.

Ruge, der sich eingangs seines Textes mit einem Hinweis aus seinem 2019 erschienenen Roman „Metropol“ dazu „bekennt“, ein „halber Russe“ zu sein, beklagt in seinem am 3.11.22 in der FAZ veröffentlichen Beitrag unter dem Titel „Warum Völkerhass niemals nützlich sein kann“, dass es allenthalben ein hasserfülltes Russen-Bashing gebe, das zum Ziel habe, Russland endgültig niederzuringen und der Ukraine und Europa einen Sieg zu bescheren, der allerdings nicht mehr als ein selbstzerstörerischer „Pyrrhussieg“ sein könne.

So laste man inzwischen die gesamten sowjetischen Verbrechen und den stalinistischen Terror „den Russen“ an. Dabei, so gibt Ruge zu bedenken, saßen an den Schaltstellen der sowjetischen Terrormaschinerie nicht nur ethnische Russen, sondern auch Letten, Kaukasier, Polen und Ukrainer. Von den zahlreichen nichtrussischen Sowjetfunktionären und stalinistischen Helfershelfern nennt Ruge u.a. so prominente Schauprozessankläger wie den gebürtigen Letten Wassili Ulrich oder den polnischstämmigen Andrej Wischinski.

Ungenannt bleibt neben dem Georgier Dschugaschwili (Stalin) ein weiterer prominenter Sowjetpole, der aus dem polnischen Landadel stammende Feliks Dzierzynski, der Begründer der berüchtigten Tscheka. Diese Liste sowjetischer „Internationalisten“ lässt sich alleine im Arbeitsbereich der auf die Tscheka folgenden GPU um die Namen von Wjatscheslaw Menschinski, Genrich Jagoda und Lawrenti Beria fortsetzen, die allesamt keine ethnischen Russen waren.

Was aber besagt dies im Hinblick auf die Verantwortung oder Schuld von russischen oder nichtrussischen hochrangigen Sowjetfunktionären, die sich bereitwillig in den Dienst der stalinistischen Vernichtungsmaschinerie stellten? Wenig, denn sie alle verstanden sich als Sowjetmenschen, die jedwedem Nationalismus abgeschworen hatten. Dementsprechend war und ist im Kontext dieser Verbrechen deshalb auch nicht von russischen, sondern von sowjetischen Verbrechen die Rede. Hier baut Eugen Ruge eindeutig einen durch nichts belegten Popanz auf!

Auch der „Holodomor“, der millionenfache Hungertod der Jahre 1932/33, der in der Ukraine bekanntlich besonders viele Opfer forderte, werde – so Ruge – „auf die Russen geschoben“. Inzwischen „traue man sich kaum noch“ an die Tatsache zu erinnern, dass den durch die stalinistische Kollektivierung hervorgerufenen Hungersnöten nicht nur Ukrainer, sondern auch Kasachen, Georgier und Russen zum Opfer gefallen seien. Auch hier stellt sich die Frage, warum man sich nicht „trauen“ sollte, diese durchaus bekannten Fakten zu benennen?

Nicht unerwähnt sollte indessen bleiben, dass in der zeitgenössischen ukrainischen Historiographie durchaus auch die These vertreten wird, dass der Holodomor von sowjetischer Seite einen gezielten, gegen die Ukraine und die Ukrainer gerichteten Genozid darstellte. Ohne näher auf dieses kontrovers diskutierte Thema einzugehen, dürfte allerdings klar sein, dass die Tatsache, dass auch andere Völker der UdSSR durch den Holodomor in tödliche Mitleidenschaft gezogen wurden, nicht ausschließt, dass Stalin bestrebt war, sich die ukrainische Bevölkerung durch besonders drakonische Maßnahmen gefügig zu machen. Damit stand er in der Tradition des zaristischen Russlands, das die Ukrainer kurzerhand zu Kleinrussen erklärte und die ukrainische Sprache verbot. (Vgl. hierzu das kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen Standardwerk von Serhyj Plochy: Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine. Hamburg 2022).

Letztlich ist aber auch hier offensichtlich, dass es nicht „die Russen“ waren, die den Holodomor herbeiführten, sondern die Sowjetführung unter Stalin. Noch entscheidender ist aber, dass Ruge fälschlicherweise unterstellt, dass man „die Russen“ für den Holodomor verantwortlich mache und sämtliche Schuld an diesem Jahrhundertverbrechen auf sie abwälze. Einen Nachweis für diese steile These bleibt er schuldig.

Auch die Behauptung Ruges, dass die große russische Literatur von Tolstoj bis Brodsky als „Literatur der Mörder und Vergewaltiger“ diffamiert werde, hält – wie Koenen richtig hervorhebt – keiner kritischen Betrachtung stand. (Gerd Koenen: Verwirrung der Gefühle. Wie kann man verkennen, dass es Putin und seine Machtoligarchen sind, die mit dem irrsinnigen Krieg gegen die Ukraine auch ihr eigenes Land in den Abgrund reißen? In: FAZ, 7.11.22, S.11).

Selbst in den jüngsten Werken zeitgenössischer ukrainischer Schriftseller/innen, die nach dem brutalen russischen Überfall auf die Ukraine entstanden sind, finden sich kaum Hinweise auf diese Behauptung Ruges. Vielmehr fragt sich die Masse der Ukrainer/innen, aber auch ein bedeutender Teil der Weltöffentlichkeit, wieso Putins Russland in diesem brutal geführten Vernichtungskrieg nicht nur ganz offensichtlich bestrebt ist, das ukrainische Volk und seine Lebensgrundlagen physisch zu vernichten, sondern sich auch mit besonderer Inbrunst der Vernichtung ukrainischer Kultur widmet: durch Zerstörung, Plünderung und Ausraubung ukrainischer Museen und Kulturstätten, Schulen und Universitäten sowie durch die Tilgung ukrainischer Kultur in den russisch okkupierten besetzten Gebieten. Ihrer Verstörung, Wut und Verzweiflung, aber auch ihren Rachegelüsten haben deshalb nicht nur Tausende ukrainischer Soldaten/innen und Zivilisten/innen Ausdruck verliehen, sondern auch zahlreiche ukrainische Schriftsteller von A bis Z, also von Jurij Andruchowytsch bis Serhij Zhadan. Kann man es ihnen verdenken?

Dass hier Parallelen zum Vernichtungskrieg der deutschen Nationalsozialisten gezogen werden können, denen es außer dem Holocaust auch um die „Umvolkung“, Versklavung und Vernichtung weiterer Völker und Kulturen ging, nicht zuletzt der slawischen „Untermenschen“, zu denen neben den Russen auch Polen, Weißrussen und Ukrainer zählten, ergibt sich aus den überall nachlesbaren völkermörderischen Ankündigungen und Verbrechen des russischen Militärs in der Ukraine.

Das aber hat Tradition, denn ähnlich wie die Nationalsozialisten betätigte sich die Sowjetunion schon vor und nach der Komplizenschaft mit dem Dritten Reich (1939-1941) ebenfalls ausgiebig als nation killer, etwa durch die massiven ethnischen „Bereinigungen“ in Zeiten des Großen Terrors oder die Deportation zahlreicher „Verräter-Völker“ während des Großen Vaterländischen Krieges.

Die Art und Weise, wie die Sowjetführung im besetzten Ostpolen ab September 1939 mit der dortigen polnischen Bevölkerung umging – ganz zu schweigen von den über Jahrzehnte geleugneten Massenmorden in Katyń – unterschied sich nur in Nuancen von der deutschen Okkupationspolitik im Generalgouvernement. Mag sein, dass diese Tatsachen in der deutschen Öffentlichkeit nur wenig oder gar nicht bekannt sind. In Polen, der Ukraine und dem Baltikum sind sie nach einer langen Epoche sowjetischen Umdeutens, Verschweigens und Vertuschens inzwischen wieder sehr präsent. Noch präsenter aber ist in diesen Ländern das Bewusstsein, dass sich Putin seit geraumer Zeit als „Historiker“ betätigt, die russische und sowjetische Geschichte imperialistisch umdeutet und den Völkermörder Stalin, der auch für den millionenfachen Tod unschuldiger Russen/innen verantwortlich ist, wieder zu späten Ehren kommen lässt. Dass Putin dabei einer perfiden Täter-Opfer-Umkehr das Wort redet und groteske Geschichtsklitterung betreibt, steht außer Frage.

Hier und heute habe ich bisher aber keinen ernsthaften Hinweis dafür gefunden, dass der Putinsche Vernichtungskrieg in der Ukraine unter einem „Narrativ des großen Bösen“ mit den einzigartigen Verbrechen der Nationalsozialisten, sogar mit dem Holocaust, „gleichgesetzt“ wird, wie Ruge meint.

Gegenwärtig, nach fast neun Monaten einer erbarmungslosen russischen Kriegsführung geht es indes nicht mehr um sowjetische, sondern explizit russische Verantwortung und Schuld. Wir erinnern uns: Es war das Land der „Dichter und Denker“, welches sich in zwölf Jahren Nationalsozialismus von der zivilisierten Welt verabschiedete und sich mit seinen Jahrhundertverbrechen für Jahrzehnte vor den Augen der Weltöffentlichkeit desavouierte. Die Kulturnation Russland, die unter vielen anderen Schriftstellern und Komponisten von Weltrang einen Puschkin, Tolstoj, Dostojewskij hervorgebracht hat und sich traditionell mit ihrem Narrativ von ihrer besonderen zivilisatorischen Mission (etwa als „Drittes Rom“) und mit dem schillernden Schlagwort des „Russkij Mir“ (Russische Welt) schmückt, ist seit mindestens zwanzig Jahren auf dem Weg in eine faschistische Diktatur. Mittlerweile hat ihre Führung, die in der Russischen Föderation noch immer (zu) viel Zuspruch genießt, die russische Zivilgesellschaft ausgeschaltet und geht mit äußerster Brutalität gegen Andersdenkende (inklusive Mordanschläge, Haft, Folter und Verschickung) vor. Putin arbeitet seit Jahren daran, Russland den höchstmöglichen Schaden zuzufügen, es zu zerstören.

Seit Jahren wird der Kreml-Herr mit dem Hinweis auf Ähnlichkeiten mit Hitlers Droh- und Eroberungspolitik in Polen häufig nur noch „Putler“ genannt. Und die Ukrainer bezeichnen russische Soldaten, besonders nach den erschütternden Leichenfunden in Butscha und anderswo, nur noch als „Raschisten“ oder in Anlehnung an Tolkien als „Orks“, mit anderen Worten als faschistische Ungeheuer. Wer kann es ihnen verdenken, zumal die russische Staatspropaganda nicht müde wird, die Ukrainer pauschal als „Faschisten“ zu desavouieren, die man auszumerzen habe? Dies alles geschieht in russischem Namen unter Absegnung des höchsten Amtsträgers der russischen orthodoxen Kirche! Diese Hasspropaganda Putins, die sich pauschal gegen den Westen, und im Besonderen gegen die Ukrainer/innen richtet, findet im Beitrag Ruges seltsamerweise keinerlei Erwähnung.

Insofern scheint mir der Kommentar Koenens in seiner Entgegnung an Ruge durchaus zutreffend zu sein: „Diese reichlich monochrone Wahrnehmung (für die man sich schwertut Belege zu finden) wird man symptomatisch nehmen müssen. Auch so ein ironisch-genauer Beobachter der von der Einheitspartei geprägten DDR-Mentalität wie Eugen Ruge entkommt offenbar nicht den eigentümlichen Wahrnehmungsverengungen und Gefühlsverwirrungen, in die ein Teil der verstärkt sich wieder als „Ostdeutsche“ definierenden Bewohner der neuen Bundesländer im Konflikt mit Putins Russland verfällt. Darin wird eine Melange widerstreitender Sentimente und Ressentimente sichtbar, die in erster Linie einer Entfremdung von der westlich geprägten Mehrheitskultur entspringen dürfte – nicht unähnlich den Gefühlslagen eines Gutteils der zugewanderten ´Russlanddeutschen`, die sich per Abstimmung oder Lebenskultur ihrerseits als ´Halbrussen´ sehen.“

Da diese nicht nur in den neuen Bundesländern wahrnehmbare Vorurteilskultur sich durch pures Unwissen und abgrundtiefe Ignoranz im Hinblick auf die ukrainische Nation und den russischen Imperialismus auszeichnet, scheint mir eine um Objektivität bemühte und an westlichen Werten orientierte historisch-politische Aufklärung und Bildung, die sich intensiv mit Osteuropa beschäftigen sollte, heute in einem weitaus höheren Maße gefordert als das bislang der Fall war. Sie sollte gezielt eben jenen sich als „Halbrussen“ verstehenden Russlanddeutschen und ihren Nachkommen angeboten werden und insbesondere in den neuen Bundesländern entsprechende Angebote machen.