Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Der namhafte slowenische Soziologe, Philosoph, Marxist, Psychoanalytiker und Kulturkritiker SlavojŽižek, der in Ljubljana und an amerikanischen Universitäten lehrt, hat vor zwei Jahren in der Gazeta Wyborcza ein Interview gegeben, in dem er kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hervorhob, dass es bei diesem Krieg nicht „nur“ um die Ukraine gehe, sondern dass Staaten wie Russland und China eine Änderung der Weltordnung anstreben.
Er fügte damals hinzu, dass er als radikaler Linker mit aller Kraft die Einheit des Westens und die Einheit Europas unterstütze, denn nur Europa sei in der Lage „uns zu retten“. Das vereinigte Europa verteidige heute die Bürgerrechte, die Rechte von Frauen und Minderheiten, eine Bildung für alle und die Chancengleichheit. Überdiese widersetze es sich den zunehmenden Nationalismen.
In dem am 30.03.2024 in der Gazeta Wyborcza veröffentlichten Interview mit Maciej Stasiński (MS), das ich unten in deutscher Übersetzung wiedergebe, bezieht Žižek (SŽ) nun gut zwei Jahre nach Kriegsbeginn noch einmal Stellung und führt aus, welche Gefahr dem demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Europa droht, wenn es sich nicht entschieden zur Wehr setzt.
Der kürzlich von zahlreichen Nobelpreisträgern/innen aus aller Welt unterzeichnete Appell für eine entschiedenere Unterstützung der Ukraine zielt in die gleiche Richtung. Gefordert wird darin u.a. eine „drastische Erhöhung“ der Ukraine-Hilfen, denn die Ukraine müsse „gewinnen, nicht nur ’nicht verlieren'“. Eine rechtzeitige Hilfe werde den Verlust von Menschenleben verringern und dazu beitragen, den Aggressor von ukrainischem Boden zu vertreiben. https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-03/ukraine-krieg-nobelpreistraeger-offener-brief-elfriede-jelinek-herta-mueller
Das von Žižek kritisierte Pazifismus-Verständnis der Linken schließt an die aktuell in Deutschland geführte Kontroverse an, die mit der von der SPD ins Spiel gebrachten Diskussion über das „Einfrieren“ des Kriegs in der Ukraine einhergeht. Die herbe Kritik an der widersprüchlichen und unentschlossenen Haltung des Bundeskanzlers und dem Defätismus Rolf Mützenichs kommt dabei nicht nur von politischen Kommentatoren aus dem In- und Ausland, sondern wurde kürzlich von namhaften, der SPD angehörenden Historikern in einem offenen Brief formuliert, in dem in aller Klarheit ein Kurswechsel eingefordert wird. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-03/spd-historiker-offener-brief-heinrich-august-winkler
Einer ihrer prominenten Verfasser, der angesehene Historiker und Intellektuelle Heinrich-August Winkler, hat seiner Partei im Hinblick auf die verfehlte zweite Phase ihrer Ostpolitik gegenüber Russland und Ostmitteleuropa bereits mehrfach den Spiegel vorgehalten und gefordert, sich von liebgewonnenen Mythenbildungen loszusagen und die deutsche Russlandpolitik mittel einer Enquetekommission des Bundestags aufzuarbeiten. (Heinrich-August Winkler: Der Tabubruch von Tutzing. In: FAZ, 20.07.2023, S.6; ders.: Ich hoffe, dass Deutschland auch aus einer schweren Krise nicht wieder als Diktatur hervorgeht. In: Der Spiegel, 04.11.2023, S.48-51)
MS: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert schon über zwei Jahre. Im Westen wächst die Ermüdung, die Ungeduld und sogar der Unwille, die Ukraine zu unterstützen…
SŽ: Nach zwei Jahren bin ich noch mehr davon überzeugt, dass ich recht hatte. Alle waren damals sicher, dass Russland in Kürze siegen würde. Und dann? Trotz der Schwierigkeiten und der russischen Übermacht geschah das Wunder. Und die Ukraine wehrt sich weiter.
Mit Grauen erfüllt mich allerdings die alberne pazifistische Propaganda, die u.a. von der europäischen Linken kommt. Ich kann den Unsinn nicht mehr hören, dass die NATO und ihre angebliche Expansion Russland zu einer Antwort gezwungen haben. Jetzt wird noch mehr als damals deutlich, dass die im Osten an Russland angrenzenden Länder wie Finnland und Schweden von sich aus in die NATO drängen, weil sie sich vor Russland fürchten. Die Überzeugung, dass man sich dem Westen, den USA und der NATO entgegenstellen muss, weil nur sie das Böse seien, und dass egal wer und in wessen Namen gegen dieses Böse ankämpft, selbst wenn es Putin ist, im Recht sei – ist erschütternd dumm. Diese Linke ist ein Schock für mich.
Derweil sagt Putin, dass die Ukraine eine Erfindung Lenins und dass der Majdan ein neonazistischer Putsch gewesen sei. Er sagt, dass die Ukraine als Volk und Staat kein Existenzrecht habe. Das ist der klassische großrussische Imperialismus aus dem XVIII. und XIX. Jahrhundert.
Wen aber unterstützt Putin im Westen? Die extrem rechte deutsche AfD, Le Pen, Salvini. Und das genügt der Linken noch immer nicht? Sie meint weiterhin, dass man die Ukraine nicht weiter unterstützen darf, dass man sie dazu überreden sollte sich zu ergeben, um Putin nicht zu provozieren. Statt konsequent und bis zum Ende der Ukraine beizustehen. Das ist der komplette Bankrott des linken Pazifismus.
Ich frage demnach, was heißt Pazifismus? Hat der Pazifismus immer Recht? Russland will sicher auch Frieden, um die eroberte Ukraine in aller Ruhe zu unterjochen. Und die Deutschen in Polen nach 1939? Nach ihrem Sieg wollten sie auch nur Frieden, um Polen in aller Ruhe ausbeuten.
MS: Die Unterstützung der Ukraine hängt allerdings nicht nur vom linken Pazifismus ab?
SŽ: Richtig. Die westliche Unterstützung gerät an ihre Grenzen. Sicherlich, wir sollten die Ukraine unterstützen, aber nicht zu sehr. Wir sollten ihnen Raketen liefern, aber nicht zu viele und keine, die das Territorium Russlands erreichen können. Man darf Putin nicht provozieren.
Denn wir im Westen leben weiterhin sehr komfortabel und möchten diesen Wohlstand nicht einbüßen. Deshalb sollte man auf die Propaganda Putins hören. Er sagt, dass Russland sein Imperium wieder aufbauen muss, dass Russland der Schutzschild der christlichen Zivilisation gegen den Relativismus und die Dekadenz des Westens sei. Das hört sich wie religiöser islamischer Fundamentalismus an!
Der Westen sollte das Gegenteil tun: die Unterstützung für die Ukraine steigern. Auf einem Seminar in London habe ich gesagt, dass man der Ukraine Atomwaffen geben sollte. Damit wollte ich absichtlich eine Diskussion provozieren, denn die Leute wissen nicht mehr, dass die Ukraine nach 1991 ihre Atomwaffen im Tausch für die Garantie ihrer Unabhängigkeit und ihrer Grenzen abgegeben hat.
MS: Ist es nicht so, dass die klassische sozialdemokratische Linke ihr „großes Thema“, den Sozialismus, eingebüßt hat, der ihre Existenzgrundlage darstellte und heute einem kollektiven „Aufrührer ohne Ursache“ gleicht?
SŽ: Das sehe ich auch so. Sie hat ihre Existenzberechtigung verloren oder ist dabei sie zu verlieren. In Polen hat zum Beispiel die PiS Sozialreformen umgesetzt, die die Linke oder andere nicht in der Lage waren durchzuführen. Nicht wahr?
Der Linken fehlt der Kompass, die Vision, welches Ufer sie anstrebt. So flüchtet sie sich in die alberne Moral von „cancel“ und „woke“. Angeblich verteidigt sie Identität, Toleranz und Diversität im Namen der sog. „Inklusion“, agiert aber genau umgekehrt: sie schließt aus, diskriminiert und toleriert niemanden, der nicht ihrer Meinung ist.
MS: Wir sprechen andauernd über die Linke, aber auf die Bedrohungen, den Krieg und das Chaos kann es verschiedenen Antworten geben. Wie soll man sich da zurechtfinden?
SŽ: Die derzeitige Ordnung und das Wertesystem zerfallen. Wir geraten wohl in eine neue Phase des Kapitalismus. Yannis Varoufakis, griechischer Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, bezeichnet sie als Technofeudalismus. Da ist wohl was dran.
Megakonzerne wie Amazon und Google sind mächtiger als jemals zuvor, zuweilen mächtiger als Staaten, mit denen sie manchmal verschmelzen. Sie gründen kleinere Unternehmen und kontrollieren die Gesellschaften immer mehr. Dadurch haben wie immer weniger Freiheit, ohne zu bemerken, dass wir beginnen sie ganz zu verlieren.
Kürzlich sagte mir ein chinesischer Philosoph, dass der einstige Polizeistaat im Vergleich zur Gegenwart ein Nichts gewesen sei. Die Polizei hat dich verfolgt und abgehört, aber du wusstest es. Heute werde ich andauernd registriert, gefilmt und von Algorithmen kontrolliert, ohne davon zu wissen. Wir leben immer mehr in „Nicht-Freiheit“.
MS: Die Gesellschaften wissen auch nicht, woran sie sich halten sollen, es herrscht Angst und Unsicherheit. Ganz zu schweigen von der weitverbreiteten Relativierung von Wahrheit und Falschheit.
SŽ: Kürzlich nahm ich an einer Diskussion teil, an der auch zwei schwarze Frauen aus Südafrika beteiligt waren. Die eine klagte über Chaos, Unordnung, fehlende Sicherheit, Kriminalität und sagte: „Manchmal sehnen wir uns nach der Apartheit zurück“. Ich darauf: „Wie bitte!“ Und sie: „Man lebte irgendwie sicherer“. Wenn ich solche Aussagen höre, komme ich zum Ergebnis, dass wir etwas falsch machen.
MS: Ein Symbol der heutigen Welt sind auch solche Staaten wie Haiti oder Salvador, wo Verbrecherbanden das Land und den Staat übernehmen und dadurch die Sehnsucht nach einem diktatorischen Regime provozieren.
SŽ: Die Hamas ist eine ähnliche Struktur und regiert nicht nur in Gaza, sondern auch in der Westbank. In Russland bildeten die Wagner-Leute von Prigoschin mit Genehmigung des Kremls so eine Privatgang. In den USA gibt es Gruppen wie die Proud Boys, die das Kapitol stürmten und mit denen Donald Trump offen flirtet.
MS: Menschen in vielen Ländern wollen keine Kinder, weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Sie fürchten sich vor der Zukunft, vor Kriegen.
SŽ: Wir leben in Zeiten eines sehr gefährlichen Durcheinanders. Vielleicht ist es an der Zeit, nicht mehr nach Volksaufständen und Erhebungen zu schielen und stattdessen das wahrzunehmen, was die schweigende Mehrheit spricht, was sie sich wünscht, und sich auf moralischen Anstand zu berufen. Ähnliches sagt Bernie Sanders in den USA. Wir sollten die einfachen, enttäuschten Menschen und ihre Bedürfnisse respektieren, denn andernfalls stimmen sie für Trump.
Sicher muss die Linke ihre eigenen Grundsätze revidieren, allerdings müssen wir alle im Westen unsere Lebensweise überdenken.
MS: Na eben: ist dieser Krieg für den Westen nicht eine größere Herausforderung als nur der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine?
SŽ: Das ist sicherlich so. Der Westen sollte sich auf eine Periode des Ausnahmezustands vorbereiten. Unsere Staaten müssen sich verändern und zu Staaten des Ausnahmezustands werden. Sie müssen sich anders organisieren, ansonsten erwartet uns eine Katastrophe.
Schauen wir uns einmal an, was die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sind, denen sich nun Saudi-Arabien, der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate anschließen. Sie bilden ein neues Weltmodell. In diesen Ländern wird verkündet, dass wir im globalen Kapitalismus und in einer multipolaren Welt kooperieren müssen, dass aber jeder bei sich das tun kann, was er möchte, Minderheiten verfolgen und die Demokratie abschaffen. Russland tritt zusätzlich als Beschützer und Verbündeter Lateinamerikas und Afrikas, der sog. unterentwickelten Länder auf. Die Linke klatscht Beifall und schlägt sich im Namen vermeintlicher Dekolonisierung an die Brust.
Schauen wir genauer hin: in Uganda hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Homosexuelle mit dem Tode oder mit Gefängnis bestraft, weil Homosexualität angeblich das Kulturerbe westlicher Eroberer und Kolonialmächte sei, Uganda aber seine souveräne Kultur zu verteidigen habe. In Russland sieht man das ähnlich.
Ein Sieg Trumps in den USA bedeutet Horror, denn die USA werden sich dann den BRICS-Staaten anschließen. Ein Albtraum! Und die Linke zeigt sich begeistert von dieser multipolaren Welt. Ich bin dagegen!
MS: Ein der Verteidigung würdiger Westen ist demnach Europa und die liberale Demokratie?
SŽ: Sicher, die demokratisch-liberale Zivilisation eines geeinten Europas. G-e-e-i-n-t, das ist sehr wichtig. Denn man sieht, dass die populistischen linken Kräfte in Lateinamerika, Trump, China oder Russland ein geeintes Europa für ihren Feind halten.
Europa muss stärker und geeinter werden. Die großen Herausforderungen, von der Klimakrise, über die Massenmigration und den wirtschaftlichen Wettbewerb bis hin zur Geopolitik erfordern koordiniertes und geschlossenes Handeln. Man muss ein Mittel finden, um ihnen gerecht zu werden, ohne dabei der Verlockung einer autoritären Ordnung zu verfallen.
Europa ist das einzige Zivilisationsmodell wahrhafter globaler Werte, das es wert ist verteidigt zu werden. Derweil fällt Europa der Passivität und Lethargie anheim, wird schwächer.
Um zu überstehen, muss es seine Einheit, auch seine militärische Verteidigung stärken und eigen Streitkräfte schaffen. Das kann Europa, denn es hat das Potential dazu. Und das ist eine existentielle Frage, denn andernfalls werden wir zu einer Kolonie der USA oder Chinas und Russlands. Die Ukraine muss obsiegen, sollte sie untergehen, werden wir alle gemeinsam mit ihr untergehen.
MS: Ist Russland nicht ein militärischer Riese auf tönernen Füßen? Wird es nicht zu einem armen Vasallen Chinas?
SŽ: Momentan glaube ich, dass Russland gefährlicher ist und dass man sich gegen Russland organisieren muss. China war niemals eine so expansionistische Macht wie Russland.
Allerdings plant China langfristig. Langfristiger als wir in Europa oder im Westen. Vielleicht ist es wirklich so, dass China überhaupt nicht einen Sieg Russlands wünscht, sondern plant es zu schwächen, um es später zu kolonisieren und an die gewaltigen Bodenschätze zu gelangen, die Russland allein nicht in der Lage ist zu fördern. Sollte das so sein, dann wäre das gar nicht so schlecht. Denn die Chinesen sind pragmatisch.
Zuweilen denke ich allerdings, dass wir eine große Katastrophe benötigen, um aus der Lethargie zu erwachen und das zivilisatorische Erbe Europas zu bewahren.