Jena-Paradies – was kostet die Freiheit?

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Ende Juni dieses Jahres verbrachte ich meinen Geburtstag mit meiner Frau und einem befreundeten Ehepaar in Holland. Achim und Erika kenne ich schon seit dem Studium, wir haben seit über vierzig Jahren Kontakt gehalten und uns auch immer wieder intensiv über die BRD, die DDR, Polen und die Sowjetunion ausgetauscht. Achim war als junger Mann in Jena im „Lesekreis“ und in der „Jungen Gemeinde“ aktiv und hat 1975, nach dem Protest gegen den brutalen Einsatz der Polizei in der Gartenstraße, einige Monate in DDR-Haft verbracht – bevor er 1982 in die BRD ausreiste.

Ein durchgängiges Thema unserer Gespräche waren bis 1989, aber auch danach, die Oppositionsbewegungen in der DDR und der VR Polen, die in nicht unerheblichem Ausmaß zum Niedergang der Diktaturen in den realsozialistischen Volksrepubliken beigetragen haben. Da ich selbst in jungen Jahren der alternativ linken Szene angehört hatte, mich später in Mainz über fast vier Jahre im „Hilfskomitee Solidarność“ engagierte und als Osteuropahistoriker, Slawist und politischer Bildner an den Umwälzungen im Ostblock privat und beruflich interessiert blieb, war und ist Achim ein kompetenter Gesprächspartner, der in der DDR für sein politisches Engagement – im Unterschied zu mir, dem in der BRD Aufgewachsenen – einen hohen Preis zahlen musste.

Insofern war ich sehr erfreut und gespannt, als er mir zu meinem Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk überreichte: Das jüngst erschienene, von dem namhaften Journalisten und DDR-Kenner Peter Wensierski verfasste Buch „Jena – Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk“, in dem der Autor, die tragische Geschichte des jungen Matthias Domaschk – genannt Matz – rekonstruiert, der 23-jährig am 10. April 1981 verhaftet und zwei Tage später nach Stasi-Verhören in der Untersuchungshaftanstalt in Gera in seiner Zelle erhängt aufgefunden wurde.

Wensierski hat über drei Jahre an dem Buch gearbeitet, in mehreren Archiven zahllose, zum Teil noch unerschlossene MfS-Akten ausgewertet, mit 160 Zeitzeugen (Verwandten, Freunden und Bekannten von Matz) und 30 Mitarbeitern der Stasi gesprochen. Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“, in dem sich Briefe, Vernehmungsprotokolle, Tonbandaufzeichnungen, Vermerke und Notizen zu diesem seinerzeit aufsehenerregenden Fall finden, hat Wensierski durchforstet und die dort aufgefundenen Quellen als authentische Äußerungen in seine Narration eingebaut. Im Text sind sie kursiv gesetzt. Die quasi wie ein Protokoll chronologisch geordneten Einträge geben die Abläufe von nur drei Tagen wieder, vom Freitag (10. April) bis Sonntag (12 April) 1981. Im Mittelpunkt steht die jugendliche Oppositionsszene in Jena, die seit Mitte der 1970er Jahre von der Stasi intensiv observiert wurde. Überlegungen, Planungen und Maßnahmen, aber auch die persönlichen Profile der Mitarbeiter in den MfS-Kreisdienststelle Jena sowie der MfS-Bezirksverwaltung Gera werden genau rekonstruiert und wiedergegeben. Weitere wichtige Handlungsorte sind die Jenaer Wohnung von Matthias „Am Rähmen 3“, in der der junge Mann bis zu seinem Tod wohnte, sowie die Wohngemeinschaften in der Maxim-Gorki-, der Jahn und der Gartenstraße und nicht zuletzt der Sitz der Jungen Gemeinde Jena Stadtmitte, in denen nicht nur diskutiert und politisiert, sondern auch ordentlich gefeiert, getanzt und Musik gemacht wurde. Wensierski rekonstruiert in einzelnen Abschnitten die Biografie von Matthias, der sich allmählich von seinem angepassten und in Jena gut situierten Vater ab- und der alternativen Oppositionsszene zuwandte.

So entsteht das Bild eines sensiblen, unangepassten, durchaus noch nicht gefestigten, sich nach Freiheit und Gerechtigkeit sehnenden jungen Menschen. Eingehender porträtiert wird auch der anarchistisch angehauchte Freund Peter Rösch, genannt Blase, mit dem Matz seine letzte Zugreise unternimmt, um an einer Geburtstagsfete in Berlin teilzunehmen.

Hinsichtlich dieser Zugreise gehen die Vertreter der Stasi aufgrund ihrer Observationen und Erkenntnisse zu den beiden Zielpersonen davon aus, dass es sich bei Domaschk und Rösch um gefährliche Staatsfeinde handelt, denen man anlässlich ihres geplanten Berlinbesuchs staatsgefährdende „terroristische“ Aktivitäten unterstellt. Die Stasi will auf jeden Fall verhindern, dass die Jugendlichen nach Berlin gelangen, um dort eventuell den gerade beginnenden X. Parteitag der SED zu stören.

Die beiden jungen Männer treten die Zugfahrt aber zunächst ungehindert an, und so wird die Reise im Schnellzug D 506 zu einem weiteren Handlungsort. Aus diesem Schnellzug heraus werden Matthias und Peter schließlich von Angehörigen der Transportpolizei im Bahnhof von Jüterbog verhaftet. Genauso ergeht es zwei jungen Frauen, Bekannten von Matthias und Peter, auch Evy und Silvi werden festgenommen. Man überstellt die Jugendlichen schließlich der Stasi in Gera.

In Rückblenden entwickelt der Autor Gedanken und Reflexionen des Inhaftierten, aus denen deutlich wird, mit welcher Rücksichtslosigkeit und Gewalt die DDR-Behörden gegen Versuche, ein alternatives Leben (Wohngemeinschaften, lange Haare, laute Beat-Musik aus dem Westen…) zu führen, vorgingen. Geschildert wird der brutale Polizeieinsatz anlässlich einer Verlobungsfeier in der Gartenstraße im Januar 1975 und die Enttäuschung der Verhörten und Verprügelten, deren Eingaben und Proteste von den Behörden ignoriert werden. (S.84-88)

Spätestens da wird klar, dass man in einem reaktionären Unrechtsstaat lebt, der selbst harmlose Formen des Nonkonformismus unnachgiebig ahndet. Allerdings hat sich die große Mehrheit der DDR-Bürger mit diesem spießbürgerlichen, zuweilen gewalttätigen Überwachungsstaat offensichtlich arrangiert. Man schaut weg und schweigt, und die karrierebewussten und staatstreuen Väter sorgen sich um ihre unangepassten Zöglinge, die sich aufgrund ihrer provokanten Lebensweise die eigene Zukunft und die ihrer Familien verbauen könnten. Auch gibt es auf allen Ebenen genügend Unterstützer, die sich der Stasi als Spitzel und Zuträger zur Verfügung stellen.

Wensierski gibt an mehreren Stellen seiner Narration, etwa unter dem Eintrag „Samstag, 15.45“, einen Einblick in die Psyche seines Protagonisten. Im Oktober 1977 wird Matthias zum Grundwehrdienst in die Nationale Volksarmee einberufen. Er muss nun befürchten, nicht nur aus seinem vertrauten Umfeld herausgerissen, sondern aufgrund seiner staatskritischen Aktivitäten auch massiven Repressionen ausgesetzt zu werden. Zuvor hat er erleben müssen, dass sieben seiner Mitstreiter nach Verhören und Gefängnisaufenthalten wegen des Biermann-Solidaritätsabends in der „Jungen Gemeinde“ nicht mehr nach Jena zurückkehren durften und in den Westen abgeschoben wurden. Ende August 1977 war auch die Beziehung zu seiner um einige Jahre älteren Freundin Renate Groß zerbrochen. Die politisch sehr aktive Renate, die unter den Jenaer Oppositionellen eine Führungsrolle innehatte, war mit der gemeinsamen neun Monate alten Tochter Julia aus Jena weggezogen, um in einem kleinen Ort bei Gera ihr Vikariat zu Ende zu bringen. Gemeinsam mit Renate war Matthias 1977 – nach der Ausbürgerung von Biermann und den Repressionen der Stasi – politisch besonders aktiv geworden.

Ende April 1979 war sein quälender Militärdienst bei der NVA, den Matthias als entwürdigende Schikane empfand, zu Ende, er konnte nach Jena zurückkehren. Wensierski rekonstruiert die damaligen Empfindungen seines Protagonisten anhand von Briefen, Gedichten und Einträgen, die in dieser Zeit entstanden. So liefert er das glaubwürdige Psychogramm eines unglücklichen jungen Mannes, der an der Kasernenwirklichkeit der DDR und seiner schwierigen persönlichen Situation, mit kaum verarbeiteten Trennungen und trüben Zukunftsaussichten, schier verzweifelt. (S.152-161)

Nach seiner Rückkehr nach Jena bleibt Matthias aber weiterhin politisch aktiv. Er stellt nicht nur Kontakte zu anderen Oppositionellen in der DDR her und arbeitet so an einer Vernetzung des Widerstands mit, sondern nimmt im August 1980 in Masuren auch an einem Treffen mit aus der DDR ausgewiesenen Mitgliedern der Jungen Gemeinde teil, um Möglichkeiten weiterer grenzübergreifender Zusammenarbeit auszuloten. Ebenso erlebt Matthias, der viel in Polen unterwegs war und eifrig Polnisch lernte, zusammen mit Peter die streikenden polnischen Werftarbeiter in der Leninwerft in Danzig und damit die Geburtsstunde der „Solidarność“. In Prag hatte er bereits 1977 zusammen mit Renate den trotzkistischen Dissidenten Petr Uhl, einen der Mitbegründer der Charta 77 – besucht und sich angeregt über die Formen zivilen Widerstands ausgetauscht. Aus der ČSSR und der VR Polen kehrte er von der Entschiedenheit und dem Mut des tschechischen und polnischen Widerstands beeindruckt nach Jena zurück und berichtete begeistert über seine dort gemachten Erfahrungen. So etwas wünschte er sich auch in der DDR …

Viel Raum nimmt bei Wensierski die Schilderung der Aktivitäten der Jenaer Oppositionellen nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 ein. Besonders aufgrund seiner Unterschriftensammelaktion, in der gegen die Ausbürgerung Biermanns protestiert wurde, geriet Matthias damals ins Fadenkreuz der Stasi, hielt während eines mehrstündigen Verhörs dem Druck nicht stand und lieferte zu viele Informationen, anstatt zu schweigen. Zu diesem Zeitpunkt war er 19 Jahre alt und angehender Vater, da seine Freundin Renate Groß, die damals ebenfalls verhört wurde, hochschwanger war.

Ähnlich verheerend war auch das Stasi-Verhör, das kurz vor seinem Tod in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Gera am 11. und 12. April 1981 durchgeführt wurde, und das Wensierksi mit Hilfe zahlreicher Quellen rekonstruiert hat. Dass sich der junge Matthias Domaschk – nach stundenlangen Stasi-Verhören entsprechend unter Druck gesetzt – per Unterschrift zur Mitarbeit verpflichtet, schildert Wensierski beeindruckend und glaubwürdig durch die auf schriftlichen Quellen und Zeitzeugenaussagen belegte Beschreibung der Verhöre, in denen es den Stasi-Leuten gelang, den verunsicherten und übermüdeten Matthias gefügig und erpressbar zu machen. Durch seine ausführlichen Aussagen und Bekenntnisse belastete er sich und einige seiner Mitstreiter schwer. Im Unterschied zu seinem Freund Peter, der weit weniger offen war und unter entsprechenden Auflagen nach dem Verhör nach Jena zurückkehren durfte.

Die weiterhin viel diskutierte Frage, wie Matthias zu Tode gekommen ist, ob durch direkte Einwirkung der Stasi oder durch Selbstmord, hat zwar in den 1990er Jahren juristisch einen formalen Abschluss gefunden, indem nach einem Wiederaufnahmeverfahren gerichtlich festgestellt wurde, dass ein Fremdverschulden nicht nachweisbar sei. Sie bewegt die Jenaer Szene aber heute noch. Dabei steht außer Frage, dass es der DDR-Staat war, der den viel zu frühen Tod dieses jungen Mannes zu verantworten hatte. Denn Matthias war trotz seiner Kontakte zur linksradikalen Szene in Westberlin, zur Charta 77 in der Tschechoslowakei und zur Bürgerrechts- und Gewerkschaftsbewegung in Polen alles andere als ein staatsgefährdender, den DDR-Staat in Frage stellender „Terrorist“, sondern ein nach Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit suchender Mensch, der – wie viele andere – Gefahr lief, am sozialistisch verbrämten kleinbürgerlich autoritären DDR-Unrechtsstaat zugrunde zu gehen. Dem widersetzte er sich entschieden und so gut er konnte…

Das besondere Verdienst Wensierskis liegt darin, in mühsamer Kleinstarbeit nicht nur die Abläufe dieser tragischen Entwicklungen quellenbasiert rekonstruiert zu haben, sondern auch mit viel Empathie ein authentisch wirkendes Bild der damals in Jena aktiven jungen Oppositionellen mit allen ihren Wünschen und Sehnsüchten, aber auch ihren beherzten Aktionen und Protesten gegen eine brutale Staatsmaschinerie nachgezeichnet zu haben. Dabei stilisiert er sie nicht zu Helden, sondern zeigt sie in ihrer ganzen sehr menschlichen Zerbrechlichkeit. Dies gilt auch für die differenzierte Charakteristik der damals involvierten – mehr oder minder hartgesottenen – Mitarbeiter der Stasi, denen er nach Jahrzehnten bei seinen Recherchen begegnet. Da gibt es durchaus unterschiedliche Schicksale und Haltungen, auch wenn sie ex post formuliert werden…

Besondere Erwähnung verdienen die dem Buch beigegebenen Fotos, in denen einiges von der damals herrschenden alternativen Aufbruchstimmung mitschwingt. In vielem, obwohl selbst in der BRD politisch sozialisiert, erkennt man sich wieder. Nicht nur wegen der Klamotten, der langen Mähnen, der quirlig wirkenden Wohngemeinschafts- und Hausbesetzerszene, sondern auch wegen der emotional berührenden Bilder einer solidarisch wirkenden Gemeinschaft junger Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Zusammenleben und einer besseren Gesellschaft (mit menschlichem Antlitz) waren. Es ist gut und wichtig, dass Peter Wensierski die Erinnerung an Mathias Domaschk und diese dramatische Zeit in seinem hervorragend recherchierten und spannend geschriebenen Buch wieder belebt hat.

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https://web.archive.org/web/20110107121512/http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2000-2003/sonderheft-1/sh0111/