Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Ja, den symbolträchtigen Gedenktag des Sieges über Nazi-Deutschland, der in Moskau traditionell mit einer großen Militärparade begangen wird, erwartet die Weltöffentlichkeit mit großer Spannung. In der Tat gibt es ganz unterschiedliche Erwartungen und Hoffnungen. Wie pompös die Waffenschau, für die schon seit Tagen geübt wird, ausfällt, bleibt abzuwarten, viel wichtiger ist, was der oberste russische Kriegsherr im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der offiziell noch immer verharmlosend als „Spezialoperation“ bezeichnet wird, zu verkünden hat. Internationale Gäste werden am 9.Mai zur Siegesparade in Moskau indes nicht erwartet. Die Reputation Russlands als „Befreier vom Faschismus“ und als „Friedensmacht“ hat in der Putin-Ära erheblich gelitten, durch den verbrecherischen Vernichtungskrieg in der Ukraine ist sie zu einer hohlen Propagandaphrase degradiert worden.
Offenbar gelingt der schlecht vorbereiteten russischen Offensive im Donbass und im Süden der Ukraine kein nennenswerter Durchbruch, den Putin als „Sieg“ im Rahmen seiner „Spezialoperation“ propagandistisch verkaufen könnte. Es sei denn, die russischen Einheiten nehmen in dem weitgehend eroberten und vollkommen zerstörten Mariupol das bei Tag und Nacht beschossene und mit tonnenschweren Bomben eingedeckte Azov-Stahlwerk ein, das sich noch immer nicht ergeben hat und in dem weiterhin an die 3.000 ukrainische Zivilisten und Soldaten (darunter ca. 500 Verwundete) verharren und weiterhin Widerstand leisten.
Die Vermittlung von Antonio Guterres hat dazu geführt, dass in den letzten Tagen wenigstens ein Teil von ihnen gerettet werden konnte, und lässt hoffen, dass das auch noch für den Rest der dort eingeschlossenen Zivilisten gelingen könnte. Was die verbliebenen ukrainischen Verteidiger angeht, so haben deren Kommandeure schon verkündet, dass sie ihre Aufgabe erfüllen werden. Das heißt wohl, dass sie eher bereit sind, zu sterben als sich zu ergeben. Ob dieses Drama bis zum 9. Mai beendet sein wird, ist noch nicht absehbar. Mit der Einnahme des Azov-Stahlwerks könnte Putin allerdings so etwas wie einen endgültigen „Sieg“ über Mariupol verkünden.
Klar ist aber auch, dass die Verteidiger von Azov-Stahl in der Ukraine schon jetzt den Status von Helden haben und in Zukunft entsprechend verehrt werden. Aufgrund der russischen Kriegführung in Mariupol, die mit zahlreichen Kriegsverbrechen einhergeht, wird dieser russische „Sieg“ nur in der russischen Propaganda als solcher wahrgenommen werden.
Die europäische Öffentlichkeit wird diese Sieges-Narration nicht anerkennen, sondern sich angewidert abwenden, historisch Bewanderten werden die Bilder des vollkommen zerstörten Warschauer Gettos, der Städte Warschau, Grosny oder Aleppo in den Sinn kommen.
Eine weitere Variante bestünde darin, im besetzten Cherson eine „Volksabstimmung“ anzukündigen oder anzusetzen, um der russischen Öffentlichkeit so die Rückkehr der „befreiten“ Stadt in den Schoß des Vaterlands als „Sieg“ zu verkaufen. Auch diese Narration würde nur in dem gleichgeschalteten Russland funktionieren, denn die Muster aus den sog. Volksrepubliken Luhansk und Donezk sind der Weltöffentlichkeit nur allzu bekannt und durchsichtig.
Im Übrigen gibt es im Hinterland von Cherson weiterhin eine entschiedene Gegenwehr ukrainischer Einheiten, wodurch ein russischer Durchbruch nach Odessa erfolgreich verhindern wird. Dass sich die Bürger der russisch besetzten Städte Melitopol und Cherson alles andere als „befreit“ fühlen, haben sie in den letzten Wochen mit ihren mutigen Protesten gegen die zusehends brutaler vorgehenden russischen Okkupanten unter Beweis gestellt.
Westliche Dienste und Militärexperten gehen auch davon aus, dass Putin eine Generalmobilmachung ausrufen könnte, um die geschwächten Reihen seiner dezimierten Kampfeinheiten mit neuem Menschenmaterial aufzufüllen. Das käme aber dem Eingeständnis gleich, dass man militärisch nicht erfolgreich war und nun doch im Krieg steht und keine begrenzte „Spezialoperation“ in der Ukraine durchführt. Und dafür müsste man die entsprechenden Jahrgänge und Reservisten aus der gesamten Russischen Föderation einberufen, auch aus jenen Militärbezirken, die bisher wenig bis gar nicht in diesen schmutzigen Angriffskrieg einbezogen wurden.
Denn inzwischen ist bekannt, dass es in erster Linie Einheiten aus der Peripherie des Reiches waren, die in den Kampf geschickt wurden. Oft schlecht ausgebildet und schlecht ausgerüstet, in der Regel nicht aus den wohlhabenden Metropolen, sondern aus dem armen Landesinneren. Die tschetschenischen Kadyrow-Männer bilden in diesem Kontext nur ein prominentes Beispiel von vielen anderen. Moskau und St. Petersburg sind durch die Folgen des „Spezialeinsatzes“ bisher wenig tangiert worden.
Was also tun am 9. Mai und danach? Wenn man keine echten Erfolge präsentieren kann? Man wird sicher versuchen mit Hilfe der Propaganda eine entsprechende Erfolgsstory zu konstruieren. Und so wie es die korrupte russische Staatsräson verlangt: ohne echte Verantwortung für die zahlreichen Pannen und Misserfolge zu übernehmen. Schon gar nicht wird dies der Ex-KGBler Putin tun, bei Bedarf wird man immer schwarze Schafe finden, die sich, wenn nötig, opfern lassen. Am besten man bleibt uneindeutig und ambivalent, so wie es die hybride Kriegführung lehrt.
Man führt Krieg, aber eigentlich führt man keinen, denn die Ukraine ist aus Putinscher Sicht ja kein echter Staat. Man macht mobil, aber nicht generell, denn das könnte die russische Bevölkerung in Unruhe versetzen. Also wird man in den besetzten Gebieten des Donbass weiter junge Männer zwangsausheben, kurz schulen und an die Front schicken. Und man wird weiter gezielt um Vertragssoldaten oder „Freiwillige“ werben, die das Geld bitter nötig haben. Immer in der Hoffnung, dass es mit diesen neu mobilisierten Reserven gelingt, den Kampfeswillen der Ukrainer zu brechen. Sollte es zu einer landesweiten Generalmobilmachung kommen, so wäre dies eine Überraschung, würde aber verdeutlichen, dass man nun auch auf russischer Seite mit einem länger andauernden Krieg in der Ukraine rechnet und deshalb die dafür notwendigen Reserven mobilisiert. Ob Putin mit dieser Einsicht leben kann? Möglich, aber nach jetzigem Stand der Dinge eher unwahrscheinlich.
Wieso Russland jetzt aber eigentlich doch im Krieg steht, erklärt die russische Propagandamaschine allabendlich im russischen Staatsfernsehen spätestens seit Mitte April damit, dass die NATO sich durch ihre Waffenlieferungen immer stärker in die „Spezialoperation“ einmische und die Ukrainer für ihre Kriegführung gegen Russland lediglich benutze.
Die Ukrainer kämpfen in dieser Auslegung nicht für ihre ureigensten, sondern für die Interessen der NATO. In diesem Kontext wird auch häufig der Einsatz von Nuklearwaffen erwogen und mit der atomaren Auslöschung einzelner NATO-Länder oder ganz Europas gedroht. Allerdings ist die NATO in diesem Krieg nicht aktiv geworden und hat es auch immer abgelehnt, den Luftraum über der Ukraine zu schließen. Dies alles, um eine direkte Konfrontation, die zu einem Weltkrieg führen könnte, zu vermeiden. Und schwere Waffen liefert man erst, seitdem Russland seit dem 17. April 2022 auf breiter Front im Donbass und im Süden der Ukraine angreift.
Also auch hier der typisch ambivalente Modus der russischen hybriden Kriegführung: „Spezialoperation“ und Krieg zugleich, beides ergänzt sich aus Sicht der Kremlführung perfekt für den jeweils notwendigen propagandistischen Einsatz. Man fragt sich, wie diese explosive Mischung bei den Russen/innen ankommt, die allabendlich die russische Staatspropaganda vorgesetzt bekommen?
Inzwischen dürfte sich aber auch in der weitgehend abgeschotteten russischen Gesellschaft herumgesprochen haben, dass die eigenen Militäreinheiten vor Kiew geschlagen wurden und erhebliche Verluste an Menschen und Material zu verzeichnen haben. Dafür stehen weit über 20.000 ausgeschaltete russische Soldaten, darunter alleine 10 Generäle und zig höhere Offiziere, tausende zerstörte Panzer, Militärfahrzeuge, Flugzeuge, Hubschrauber, Raketen, Drohnen und Kriegsschiffe, mit der symbolhaften Vernichtung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, des Raketenkreuzers „Moskwa“ durch ukrainische Raketen.
Wie soll man das alles der eigenen, auf Sieg gepolten Bevölkerung erklären? Und wie kann man da noch von einem Vorgehen nach Plan und von militärischen Erfolgen sprechen? Wie erklärt man also am 9. Mai 2022 in Moskau ein desaströses politisches und militärisches Versagen zu einem Sieg?
Dass Putin seine Niederlage eingesteht und der Ukraine ein echtes Friedensangebot macht, darf angesichts der gerade wieder verstärkt vorgetragenen Angriffe im Donbass und in der Südukraine ausgeschlossen werden. Was tun also, um das eigene strategische Versagen zu verhehlen und das Gesicht zu wahren?
Putin hat am 9. Mai 2022 noch die finale Option aufgrund der westlichen Waffenlieferungen und der kürzlich angekündigten noch schwerwiegenderen Sanktionen gegen Russland wirklich ernst zu machen und die „Spezialoperation in der Ukraine“ in einen echten Krieg mit der NATO zu verwandeln. Mit oder ohne Kriegserklärung, einerlei, aber ganz im Einklang mit der vom russischen Generalstabschef, Walerij Gerassimow, mitentworfenen Doktrin der hybriden Kriegführung.
Es ist fraglich, ob er sich das wirklich traut, denn angesichts der offensichtlichen Schwäche der russischen Streitkräfte, würde eine solche Auseinandersetzung entweder die totale militärische Niederlage Russlands oder die Ausweitung eines konventionellen Weltkriegs zu einem globalen Nuklearkonflikt bedeuten, bei dem es keine Sieger gäbe. Insofern darf mit großer Spannung erwartet werden, welchen Ton der Kremlchef am 9. Mai in Moskau anschlägt und was er seinem friedliebenden Volk und der ebenso friedliebenden Weltöffentlichkeit in Moskau zu verkünden hat.