Die vielen Gesichter Ungarns – von Viktor Orbán bis zur Gay Pride

von Dr. Gerhard Schüsselbauer

Ungarn steht seit etlichen Jahren mit seiner ultrakonservativen, nationalpopulistischen Regierung mit Viktor Orbán an der Spitze im Fokus der Berichterstattung. Völlig zu Recht wird dabei in der Kritik auf die mangelnde Konsolidierung des demokratischen Spektrums und die Aushöhlung der republikanischen Prinzipien der strikten Gewaltenteilung zugunsten der Exekutive durch die Fidesz-Regierung verwiesen. Einschränkungen der Unabhängigkeit der Justiz gehen einher mit Beschränkungen der Arbeitsweise und Finanzbasis von Nichtregierungsorganisationen sowie der nach wie vor nicht abgewendeten Schließung der renommierten Central European University in Budapest.

Doch Ungarn bietet abseits der politischen Auseinandersetzungen innerhalb des Landes sowie mit der EU auch ein vielschichtiges Bild der (sub-)kulturellen Bewegungen. Die alternative Radiostation Tilos Rádio veranstaltet in diesem Sommer eine Reihe von höchst interessanten und abwechslungsreichen, nichtkommerziellen Programmen und künstlerischen Veranstaltungen. Das allerdings sehr kommerzielle mehrtägige Musikfestival „Sziget“ wird im August wiederum weit über 400.000 zumeist junge Musikbegeisterte auf eine Donauinsel in Budapest anlocken. Und am 8. Juli 2017 wird die Budapester Pride wieder viele Tausende von Menschen anziehen (LGBTQ – lesbian, gay, bisexual, transgender and queer). Gerade der Kampf für mehr Gleichberechtigung stellt ein zentrales Anliegen dieser Bewegung dar. Ungarn ist nicht nur Orbán und seine zumeist männliche Regierungsmannschaft, sondern auch eine bunte zivilgesellschaftliche Mischung, von feministischen Bewegungen bis hin zu Menschenrechts- und Umweltschutzorganisationen reichend. Budapest selbst hat sich zu einer pulsierenden europäischen Metropole entwickelt, die junge Menschen mit kreativen Ideen aus der ganzen Welt anzieht und die schon lange kein Geheimtipp mehr ist.

Alternative Kunst in Budapest

Doch zurück zur politischen Aktualität: Besonders eklatant zeigt sich die ultrakonservative Haltung der ungarischen Regierung unter Orbán in der Flüchtlingspolitik seit 2015, denn sie erregte nicht nur EU-weit, sondern weltweit großes Aufsehen. Bekannt geworden sind vor allem Fernsehberichte und Fotos von schlechten humanitären Zuständen für Flüchtlinge in Ungarn und Budapest im Spätsommer 2015, von martialischen Soldaten und markigen Worten des Ministerpräsidenten, der die gesamte Flüchtlingsproblematik Deutschland zuschieben wollte (O-Ton Viktor Orbán: „This is not a European problem, this is a German problem!“). Fakt ist, dass Ungarn von allen EU-Ländern bis Oktober 2015 mit Abstand die meisten Asylbewerber pro Einwohner aufgenommen hat und damit weit vor Österreich, Schweden oder Deutschland lag. Die drastischen und von weiten Teilen der Bevölkerung wohlwollend aufgenommenen Maßnahmen der ungarischen Regierung mit Errichtung von Grenzzäunen, die von bewaffneten Soldaten bewacht werden, legen die starke Vermutung nahe, dass es Orbán und seiner Regierung vor allem um Abschottung und Abschreckung geht.

Politisches Asyl wird somit faktisch unmöglich in Ungarn. Der nationalstaatliche Reflex dominiert ganz eindeutig über dem europäischen Solidaritätsgedanken. Nur wenige oppositionelle Kreise oder NGOs von jungen, engagierten Bürger*innen oder Studierenden kritisieren dies als skandalöse Politik der Isolation und menschenfeindlichen Abschottung. Symbolisch hielt im Sommer 2015 eine junge Frau ein Transparent hoch mit der Aufschrift „Dear Refugees! Welcome, but sorry for our Prime Minister!“ Auch das im Oktober 2016 abgehaltene und letztlich ungültige Referendum zur Entscheidung über die Aufnahme von Flüchtlingen trug dazu bei, dass sich vermehrt zivilgesellschaftlicher Widerstand formiert. Im Juni 2017 initiierte die EU-Kommission nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und weitere ostmitteleuropäische EU-Länder wegen deren Weigerung zur Aufnahme von Geflüchteten nach der Übereinkunft des Ministerrates der EU, die die Verteilung nach festgelegten Kontingenten regeln soll.

Die ultrakonservative Politik der Regierung Viktor Orbáns stellt nicht nur einen Abgesang an die europäische Wertetradition dar, sondern soll dazu dienen, eine pseudo-homogene ungarische Gesellschaft (eine homogene ungarische Gesellschaft gab es auch in der Vergangenheit nie!) durch massive Abschreckung zu bewahren. In Wirklichkeit ähnelt die geistige Einstellung Orbáns sehr derjenigen Wladimir Putins, der dem Westen immer wieder voraussagt, dass er an seinem multikulturellen, offenen und liberalen Gesellschaftsbild elendig zugrunde gehen wird. Gemeinsam mit dem Parteivorsitzenden der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei PiS („Recht und Gerechtigkeit“), Jarosław Kaczyński, fordert er vehement eine „Gegenrevolution“ in Europa zur Stärkung der Nationalstaaten und zur Schwächung der gemeinschaftlichen EU-Kompromisse.

Es müssen daher noch viel mehr (junge) Menschen in Ungarn mobilisiert werden, um den „Pulse of Europe“, in Ungarn noch gar nicht vertreten, sowie weitere zivilgesellschaftliche Aktionen auf den Plan zu rufen und massiv zu stärken. Das Potenzial ist zweifellos vorhanden, auch wenn die Regierung von Viktor Orbán bislang unumstößlich im Sattel sitzt und sich breiter Zustimmung in der Bevölkerung erfreut. Dazu trägt auch die robuste wirtschaftliche Entwicklung mit soliden realen Wachstumsraten des BIP sowie sinkender Arbeitslosigkeit bei. Allerdings haben in den letzten Jahren hunderttausende, zumeist junge und ausgezeichnet qualifizierte Fachkräfte aus wirtschaftlichen, aber auch politischen Gründen das Land verlassen. Innovationsgeist, Kreativität und uneingeschränkte Freiheitsrechte sind jedoch genau diejenigen Faktoren, die jedes Land zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Fortschritts und dynamischen ökonomischen Wandels und Wachstums benötigt. In Ungarn beobachtet man also beides: sowohl eine Lähmung durch die regierende politische Elite als auch kreative Herausforderungen durch Andersdenkende.

Dr. Gerhard Schüsselbauer ist Institutsleiter und wissenschaftlich-pädagogischer Mitarbeiter am GESW.